Grenzerfahrung Fichkona von Christoph (Alias Lolek)


Bisschen was zum lesen…

Es ist Sonnabend der 24.06.2006 früh kurz nach acht Uhr morgens auf dem Fichtelberg. Ein sehr ungewöhnliches Bild zeigt sich den Augen der Touristen. Statt Wanderschuhen, Ferngläsern, Wanderstöcken und Hüten bestimmen in enge, schreiend bunte Pellen gewandete Figuren das Bild. Wenn sie sich bewegen klingt es wie Stöckelschuhe und überall finden sich blitzende und polierte Fahrräder wieder.
Eine Atmosphäre der Spannung und Vorfreude herrscht.
Völlig relaxte Menschen stehen neben total aufgeregten und nervösen Personen.

Was ist hier los. Alle diese Leute haben ein Ziel – sie wollen in der Ostsee baden gehen, und zwar am Kap Arkona, dem nördlichsten Punkt der DDR.

Auch ich habe mich angemeldet und bin dabei. Total aufgeregt und nervös scheitere ich schon fast beim Montieren der Rahmennummer. Benötige statt 3 Kabelbindern die dreifache Menge. Vor der Abgabe des Kleidersacks wir dieser wieder und wieder durchwühlt ob wirklich alles dabei ist.
Ich treffe bekannte Gesichter – die meisten “Ersttäter” ähnlich nervös.
Der Kleidersack ist im richtigen Begleitfahrzeug verladen, das Gepäck fürs Ziel auch, Rahmennummer ist montiert, jetzt gibt es nichts mehr zu tun.
9:45 noch 15 min zum Start. Langsam stellen wir uns an den Start, der Zeiger rückt vorwärts. Fragen schießen durch den Kopf; habe ich genug trainiert, die anderen sehen alle so fit aus, habe ich nichts vergessen, wie wird das Nacht fahren, hoffentlich spielen die Gelenke, die Knie und der Hintern mit.
10:00 Startschuss – wir rollen los, schön viel Abstand zum Vordermann. Ein Sturz wäre das letzte was ich brauchen kann. Die Begleitfahrzeuge machen die Kreuzungen für uns zu, wir können durchrollen. Durch Annaberg, Leute am Straßenrand bleiben stehen und klatschen – ein schönes Gefühl. Die ersten längeren Anstiege gehen ohne Problem, der Schnitt bleibt hoch.
Kurz vor Chemnitz erwartet uns die Polizei um uns hindurch zu leiten – zügig fliegen wir durch Chemnitz, auch hier Publikum am Straßenrand.
Wir folgen der Bundesstraße gen Rochlitz. Noch kenne ich die Gegend, es ist ziemlich hügelig. Wir rollen eine Steigung nach oben, links am Strassenrand ein Transarent – ich sehe meinen Namen. Jörg ist da, er ist es wirklich, extra aus München angereist nur für diesen kurzen Moment – ich fühle mich so groß und voller Dankbarkeit – Freunde sind was tolles.
Kurz darauf nach ca. 90 km die erste Verpflegung, Schnitt irgendwas bei 37 – Wahnsinn, ich fühle mich gut. Ein Essenangebot das vom Hocker haut. Nudeln, Brötchen, Riegel, belegte Brote, Bananen, Äpfel, Kuchen, diverse Getränke.
Inzwischen sind die Temperaturen so, dass auch ich die Knielinge ausziehe. Die Gruppentrennung wird vorgenommen – Gruppe 1 fährt zuerst. Normalerweise sollte Gruppe 2 und 3 getrennt fahren – auf einmal starten doch beide zusammen.
Die vielen Hügel reißen die Gruppe schnell auseinander. Fluchen mit viel zu hohem Puls jage ich der Gruppe hinterher – sehe sie immer 2 bis 3 Kurven vor mir, im Kopf die Angst mich kaputtzufahren, auf dem Tacho auf der Geraden 47 und keine Chance wieder ranzukommen. Ich habe das erste Mal die Nase voll – überlege aufzugeben wenn das so weitergeht. Nach 30 km ist ein Liter Flüssigkeit alle. Auf einmal sehe ich sie wieder – wartend am Straßenrand. Endlich – die Trennung von Gruppe 2 und 3. Gruppe 2 fährt weiter und Gruppe 3, für die ich mich gemeldet habe wartet auf die letzten versprengten. So langsam war ich gar nicht wie sich herausstellt.
Wir sind komplett, einige aus Gruppe 2 fahren ab sofort bei uns mit. Schnell bildet sich eine sehr harmonische Gruppe mit ordentlichen Führungswechseln und einem schön angenehm konstanten Tempo. Noch fühle ich mich gut, das Tempo kommt mir entgegen und die Distanz ist bekannt. Ich zwinge mich hohe Drehzahlen zu fahren und regelmäßig zu trinken. Ich unterhalte mich mit Michael aus Zwönitz, sein Trikot soll zu meinem Leitspruch werden falls nichts mehr geht “Quäl dich”. Die zweite Verpflegung ist erreicht, wir sehen Gruppe 2 noch kurz dann hat essen und trinken Vorrang. Micha wechselt in Gruppe 4. Leider wird er unterwegs aussteigen-Schade. Weiter geht’s – die Hügel sind geschafft es wird flach, wir lassen Eilenburg und Wittenberg liegen, passieren die Elbe und rollen gen Potsdam. Es rollt perfekt, immer mit im vorderen Gruppendrittel beteilige ich mich an der Führungsarbeit, lasse aber auch andere gern führen. Inzwischen ist die Gruppe gut eingespielt, immer seltener habe ich die Hände an der Bremse – es ist nicht notwendig. Befehle werden gut nach hinten durchgegeben, die meisten zeigen auch ordentlich an. So fressen die Reifen und Beine Kilometer um Kilometer, ich fühle mich noch immer gut und frisch, nichts tut weh.
Die Schilder verraten uns – Potsdam voraus! Nächste Verpflegung, ich montiere mein Licht und ziehe die Knielinge wieder an. In Potsdam keine Polizeibegleitung – die Stadt der roten Ampeln. Stopp and Go, immer wieder, es nervt gewaltig. Aus der Stadt raus, wir rollen endlich wieder die nächste Pause – Licht montieren. Das hätte auch schon eher geschehen können. Die Straße wird zur Allee, es dämmert leicht, kaum noch Verkehr. Ich merke wie meine Hände anfangen taub zu werden. Jetzt kann ich auch nicht mehr von Erfahrungen zehren, ich weiß bisher nur wie sich mein Körper bis km 317 verhält. Irgendwie bekomme ich gerade einen geistigen Knacks, gerade 50% geschafft, warum mach ich das? Will ich weiterfahren?
Schnell suche ich mir einen Mitfahrer und unterhalte mich angeregt mit Ihm. Bald ist das Tief überwunden, die Muskeln sind noch frisch. Vielleicht schaffe ich es ja wirklich? Bei dem Gedanken bekomme ich eine Gänsehaut. Inzwischen ist es richtig dunkel. Ich schalte die geborgte Sigma Mirage ein – Danke Torsten – ein genialer Lichtschein. Mit diesem Licht bin ich als “Führungsfahrzeug” prädestiniert. Nach Rücksprache mit den Beinen mache ich das auch. Ich sehe weder Geschwindigkeit noch Puls, fahre nur noch nach Gefühl. Es macht Spaß. Vor dem Nachtfahren hatte ich so eine Angst, es ist überhaupt kein Problem. Ich werde zu schnell und muß von hinten eingebremst werden. Bei der Durchfahrt von Ortschaften sehe ich im Schein der Lampen immer mal eine 34, 36, 38 auf dem Tacho stehen. Ob es berghoch geht sieht man nicht – in den Beinen merke ich es nicht. Die nächste Verpflegung ist erreicht, an der Tankstelle geben wir bestimmt ein schönes Bild ab. Ich ziehe mir eine neue Hose an und die Windweste drüber – immer noch angenehm warm.
Über eine für Autos gesperrte Brücke geht’s weiter. Ohne Führungsfahrzeug und auch sonst ohne Verkehr rollen wir durch Mecklenburg. Ich fahre seit 2 Stunden den gleichen Gang und die gleiche Frequenz. Immer mal umschauen und eventuell einen Tritt rausnehmen, sonst hört man nur das Surren der Reifen und der Ketten und die Gespräche von hinten. Neubrandenburg ist erreicht. Die Ampeln sind aus, die Straßen frei, eine unentwegte feiern noch immer den Fussballsieg und uns gleich mit. Ich kenne die Strecke, ich bin sie immer mit meinen Eltern im Winter nach Usedom gefahren. Nie hätte ich mir vorstellen können das mit dem Rad zu fahren, was mache ich hier? Ich fühle mich prima, nur die Hände tun weh, die Beine sind schön warm, ich verspüre Kraft ohne Ende.
Die Dämmerung zieht herauf, Nebel legt sich wie Watte über die Landschaft und die kältesten Stunden des Tages brechen an. Noch 60 km bis Stralsund, Verpflegungspause. Ich ziehe die Ärmlinge an. Langsam kann ich keine Brötchen und Bananen mehr sehen, ich esse trotzdem regelmäßig.
Stralsund ruft, es rollt prima, ich fühle mich so toll und frisch, es ist unglaublich. Der obligatorische Griff zur Trinkflasche. Warum ist diese so leicht? Verdammt, ich habe vergessen diese beim letzten Stopp zu füllen. Nur noch einen halben Liter für 60 km.
Muss trotzdem gehen. Ich führe noch immer, aus der Gruppe kommt die Bitte die Hügel mit nicht mehr als 30 hoch zufahren – das fällt schwer – ich will ankommen und die Beine sind gut. 33 / 34 auch bei den leichten Steigungen kein Problem. Wir fahren durch Greifswald. Leichte Konfusion danach, nehmen wir die Bundesstraße die als Kraftfahrtstraße gekennzeichnet ist oder nicht – wir nehmen sie. Kurz vor Stralsund biegt das Führungsfahrzeug nach rechts ab – Kopfsteinpflaster AUA, und das auf ca. 8km.
Die Gruppe zieht sich extrem auseinander. Hier hilft nur noch Tempo, ich gebe alles , es sind schließlich nur noch 80 km. Stralsund ist erreicht, wir sammeln die Gruppe zusammen. Über den Rügendamm mit einer herrlichen Sicht erreichen wir die Insel Rügen. Es ist fast geschafft – ich werde es packen. Ein tiefes Glücksgefühl macht sich breit, mich fröstelt, ich habe Tränen in den Augen. Aber ich bin noch nicht da. Ich brauche etwas zu essen und zu trinken, das erste Mal merke ich das die Kraft nachlässt. Ich kann nicht mehr führen: Ich bewundere Lutz, mit Trekkingrad und Tevas auch die ganze Zeit mit in der Führung lässt er auch jetzt keine Schwäche erkennen. Samtens – letzte Verpflegung. Ich esse mit Widerwillen und fülle meine Flaschen. Wir entscheiden uns als Gruppe weiterzufahren – eine Zeit unter 24 Stunden ist relativ bequem in Sicht.
Jetzt geht’s es wieder Führungsarbeit übernehme ich nur noch wenig, habe aber noch genügend Körner um bei Löchern in der Gruppe diese wieder zusammenzufahren. Es wird noch einmal ziemlich wellig. Dann Sargard, das letzte Stück Pflaster tut weh, aber es ist nicht lang. Gleich da sage ich mir. Die Straße windet sich, rechts Kiefernwald links auch, monoton und ohne Ende. Endlich, das Schild Arkona, ein Freudengeheul tut sich breit. Wir fahren durch Altenkirchen an unserer Unterkunft vorbei, werden von den schnelleren, die schon da sind, angefeuert. Die letzten Kilometer genieße ich. Ich nehme die Landschaft, den Duft der Felder, die salzige Luft in mich auf und schäme mich meiner Tränen in den Augenwinkeln nicht, ich bin glücklich. Es werden Rügen Fahnen geschwenkt, ich fühle mich gut.
Im Ziel fallen wir uns in die Arme, wir haben es wirklich geschafft, alle gemeinsam haben eine unfassbare Leistung vollbracht. Danke an alle Mitstreiter, Ihr seid toll.

Raus aus den Schuhen und den Füßen Bodenkontakt gönnen. Dem Hintern geht es gut, nur die Hände sind total taub, Löffel halten, Pizza schneiden Schnürsenkel binden – alles ziemlich schwierig (noch heute am Dienstag).
Wir sind baden Rad gefahren.
Die Daten:
Strecke: 616 km
Fahrzeit netto: 19:54h
Schnitt: 31,5
Fahrzeit brutto: 23:30
Max: 74
HM: 2800

Was man nicht in Daten fassen kann:
Die Angst davor
Das Gefühl danach

Ein grosses Dankeschön an das gesamte Orgateam, wir durften Rad fahren, sie mussten immer mit 30 vor und hinter uns herzuckeln, ihre Geschwindigkeit uns anpassen uns konnten